Ausstellung von Fotografien aus den 90er Jahren im Kosovo, aufgenommen vom kroatischen Fotojournalisten Zoran Filipovic.
Zoran Filipović Zoro
1991
Erinnerungen verblassen, und das Vergessen ist unersättlich. Nur ein winziger Bruchteil der individuellen Erinnerung findet Eingang ins kollektive Gedächtnis. Der damit verbundene Verlust ist bereits enorm. Und doch ist die Erinnerung an den Einzelnen, an jenen Veronica-Schal, das Einzige, aus dem die Geschichte ausgelöscht wurde. Und diese Erinnerung wird oft durch die farbigen Filter von Ideologie, Politik, der Industrie des Vergessens, von Wünschen und Absichten – guten wie schlechten – verfälscht. Die persönliche Erinnerung hingegen ist eine Substanz, die wie Medizin eingenommen werden muss. So bitter sie auch sein mag und so kostspielig ihre Nichtbeachtung auch sein mag.
Fast ein halbes Jahrhundert lang habe ich meine Sommer auf der Insel Šipan verbracht. Als mein Nachbar Tonči, der sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat, diesen Sommer über die Kriegszeit in Dubrovnik sprach, sagte er zu mir: „Wenn du wirklich etwas über diese Zeit wissen willst, gibt es einen Mann, der immer die Wahrheit gesagt hat und dem du bis zum Schluss vertrauen kannst. Lies Zoran Filipovićs Buch ‚Das Sterbetagebuch‘.“ Und etwas verlegen fügte er hinzu: „Er erwähnt mich darin auch.“ Um mir die Sache zu erleichtern, fuhr er nach Dubrovnik, lieh sich das Buch aus und brachte es mir. Warum erzähle ich das jetzt? Weil mein Nachbar einer der Schlüsselfiguren war, durch die Dubrovnik heimlich, nachts und auf den Inseln, bewaffnet wurde. In diesen fünfundzwanzig Jahren hatte er Zoran Filipović, den er damals kennengelernt hatte, nicht vergessen. Filipović hatte ihm in seinem Buch einige wunderschöne Zeilen gewidmet. Als ich, bewegt und beeindruckt von dem Buch und seinem hohen literarischen Wert, den Autor erkannte, erwähnte ich ihn gegenüber meinem Nachbarn. Nach einem Vierteljahrhundert erinnerte sich auch Zoran Filipović an ihn.
„Einer sprach die Wahrheit“ – so lautete das Vermächtnis von Zoran Filipović. Er war eine Legende der Kriegsfotografie, genannt Zoro, und seine Bilder wurden von den wichtigsten Medien der Welt veröffentlicht. Er fotografierte dort, wo niemand sonst hinkonnte, als die Gefahr zu groß war, als das Leben, das einzige, auf dem Spiel stand. Als ob er auf sich selbst gesetzt hätte. Und beinahe hätte er die Wette genau dort verloren, wo er es am wenigsten erwartet hätte. Er bereiste ganz Kroatien und sah das Gesicht des Geschehens, das Gesicht des Landes. Dank ihm sahen es auch andere und können es noch heute sehen: jene mit klarem Blick, jene, deren Bilder ausgelöscht wurden oder aus ihrem Gedächtnis getilgt wurden, und jene, die die Hoffnung schon fast aufgegeben hatten zu sehen.
Zoran Fillipovićs Fotografie verzichtet auf Farbe (und jeglichen Glanz) und verharrt in der unvergänglichen Beziehung zwischen Schwarz und Weiß: Schwarz und Weiß treten in Dialog, durch Grau hindurch, und vermitteln dennoch Botschaften in kräftigen Farben. Ein lebloser Körper liegt auf der Straße von Vukovar. Eine Hand ist sichtbar, die andere fehlt, zerbrochen wie bei einer Schaufensterpuppe. Die Flecken auf der Straße wirken wie Spuren des städtischen Alltags, Motoröl oder etwas anderes. Keine Farbe verrät, dass es sich um Blut handelt. Das Grau scheint mit Lippenstift getränkt, der allmählich in eine fehlende Farbe übergeht. Diese Straßenflecken in seinen Fotografien sind das, was Roland Barthes als Punctum bezeichnet. Dieses Punctum wandert bei Zoran Fillipović vom Zentrum der Szene zu den weichen Rändern des Raumes, vom Drama des Geschehens zu den sekundären Details der Szene. Er will uns nicht überzeugen, doch je stiller das Bild, desto schockierender die Überraschung.
In der nebligen Wüste des Landes Voçin sind die Menschen fort, die Ruinen bleiben: ein Nebelschleier der Zerstörung. Die Menschen stehen da wie in der Ewigkeit. Als wäre die Milchstraße auf die verwüstete Erde gefallen. Alles ist still und fern, man weiß nicht, ob die Zeit davor oder danach stehen geblieben ist. Und der Blick, der immer wieder vom Vordergrund zurückgezogen wird, entdeckt plötzlich etwas Ungewöhnliches: etwas mit einem Kamm, wie ein toter Hahn. Doch niemand weckt den Morgen. Es ist kein Hahn, sondern eine Bombe. So sitzt der Mann im Hintergrund, mit dem Rücken zugewandt, in Brest vor der Brücke, über die der Zug fährt. In einem Raum, der keine Ebene ist, sondern im Vordergrund, liegen Gasflaschen auf dem Boden. Es scheint, als seien dies die Waffen derer, die nichts mehr haben, womit sie sich verteidigen können. Ja, auch ein Hund ist in Brest zurückgeblieben. Er steht vor einem Haus, das vermutlich leer steht. Es teilt denselben Punkt mit dem Detail einer anderen Fotografie, wo hinter den Gittern des Flüchtlingswagens das Haus wie ein weiches Kissen verschwindet. In Voçin ist ein Mann von der Tragödie zurückgekehrt, die wir nicht sehen, und lehnt, vielleicht weinend, an dem Regal mit den Blumentöpfen, an dem einstigen Glück. Etwas weiter entfernt stellt eine weitere Schwarz-Weiß-Fotografie auf dem kurzen Weg des Todes den Ermordeten, den Lebenden, der ihn begräbt, und die Erde, die ihn zu verschlingen droht, gleich. Ihre Erde ist Geografie und Geschichte.
Wie schön Vinkovci brennt! Und wie das Licht des Feuers die völlige Dunkelheit vertreibt!
Gott und die Wahrheit liegen im Detail: In Fillipovićs Fotografien liest man gefrorene Herzen. Es war das alte Neujahr 1991 in Vukovar. Unzählige Fußspuren prägen die schneebedeckte Straße, doch Menschen fehlen. Ein kleines Gebäude scheint seine kunstvolle Fassade bewahrt zu haben. Vom Fenster aus sieht man, dass drinnen nichts mehr ist. Ein Kronleuchter, dessen Kopf abgebrochen ist, hängt kopfüber. Eine Frau, gebeugt und traurig, betrachtet sich selbst und fügt ihre Fußspuren den anderen hinzu.
Im Inneren der deutschen Ausgabe von „Das Sterbetagebuch“ platzierte der Autor ein Foto der abgebrannten Bibliothek von Vinkovci. Und nur seine Worte können diesen Bildern standhalten, deshalb zitiere ich sie:
„Vor dem Handwerkerhaus stand die Bibliothek. Jetzt ist es ein Friedhof verbrannter Bücher. Die Metallregale sind vom Feuer fast geschmolzen. Darauf liegt gefaltete Asche, wie die Bücher, aus denen sie entstanden sind. Bücher aus Asche. Wenn ich sie berühre, zerfallen sie zu einer formlosen Masse. Wie in einem Märchen über verfluchte Orte, die eine Hexe verflucht hat. Ich stelle mir das Ende anders vor: dass die Bücher aus Asche bei Berührung wieder in die Realität zurückkehren. Während ich zwischen den Regalen entlanggehe, sinken meine Füße tief in die Asche. Ich weiß, ich spüre, dass die geheime Antwort in dieser Asche geschrieben steht. Ich empfinde eine ehrfurchtgebietende Ehrfurcht, als mein Fuß sanft in die edle graue Masse sinkt, während ich mit vorsichtigen Bewegungen winzige Wölkchen aufsteige, die sich frei in der Luft auflösen. Ich erinnere mich an ähnliche Geschichten, wie die Bibliothek von Alexandria, die von Barbaren zerstört wurde. Oder an die Bücher, die in Berlin öffentlich verbrannt wurden. Die Geschichte wiederholt sich. Haben wir etwas gelernt?“
Die abgebrannte Bibliothek von Vinkovci offenbart eines der zentralen Motive dieser Fotografien und dieses Buches: das Verhältnis zwischen Mensch und Asche. „Und zum Staub kehrst du zurück“; „Nicht einmal dein Land wird sich mehr an dich erinnern“. Bedeutet dies, dass der Mensch sich nicht mehr an sein Land erinnert, selbst wenn er zum letzten Staubkorn im letzten Licht geworden ist? Sind nicht jene Partikel, die uns stets umgeben, selbst wenn wir sie auszulöschen versuchen, die stille Erinnerung, die Hülle der Welt? Erweisen wir dem Leid mehr Ehre durch Erinnerung oder durch Vergessen? Das Vergessen wird stets gefördert, beschworen und bevorzugt, ohne dass die Warnung uns mahnt. Die Wahrheit wählt stets den schwierigeren Weg.
Ihr Zeuge, Zoran Fillipović, wählte die schwierigere Seite.
Zhelka Corak

